Sunnyboys Trauer.

 

Ritchie ist so einer von denen. Sie kommen in einen Raum und es wird hell, die Stimmung steigt fühlbar an, und auf einmal wirkt alles nicht mehr so schwierig wie vorher. Der drahtig-sportliche Anfangsvierziger mit dem gewinnenden Lächeln scheint die Probleme wegzustrahlen. Die Mitarbeiterinnen seufzen leise, wenn der notorische Junggeselle an ihrem Büro vorbeigeht. Alles Roger, signalisiert Ritchie, alles im Griff.
Aber seit kurzem strahlt Ritchie nicht mehr.

Schmiedinger nämlich ist ein harter Hund, und er lässt Ritchie auflaufen, wo immer es nur geht. Und irgendwo geht es immer. Ritchie läuft auf und läuft auf, bis ihm jedes Lachen vergangen ist, und er wundert sich: „Ich bin doch zu Jedem nett!“

„Überleg dir das gut!“, hatten die Kollegen ihm gesagt, als er seine Bewerbung für den Posten zusammenstellte. „Bereichsleitung ist okay, aber der Außendienstleiter ist seit zwanzig Jahren dabei, und du bist nicht gebaut für so einen.“ Schmiedinger grüßt ihn nicht mal, wenn sie sich auf dem Korridor begegnen, obwohl Ritchie seit ein paar Wochen sein Vorgesetzter ist.
Also grüßt Ritchie ihn zuerst, denn Ritchie erträgt keinen Unfrieden, aber Schmiedinger nickt nur abwesend. Außerdem macht er ihm Angst, aber das gibt Ritchie erst zu, als er bei mir auf der Couch sitzt, traurig dekoriert mit den Resten von dem, was einst als „Ritchies unwiderstehliches Lächeln“ galt.

Er versteht die Welt nicht mehr: Stets freundlich zu Jedem („Ich bin mit allen in der Firma per du!“), kommunikativ und kompromissbereit („Es gibt für alles eine Lösung!“), und auf Aggression reagiert er mit entwaffnender Freundlichkeit („Sowas führt doch zu nichts!“). – Nur bei Schmiedinger entwaffnet nichts mehr. Schmiedinger will ihn offensichtlich „weghauen“, um die Position selber zu kriegen. In Ritchie steigt das Gefühl hoch, Figur in einem Spiel zu sein, das er nicht ganz durchschaut.

Er durchschaut sich ja nicht einmal selber.

Ich riskiere eine Unverschämtheit: „Keine Eier in der Hose.“, sage ich. „Und dann wundern Sie sich noch.“
„Finden Sie?“ fragt Ritchie mit sanftem Lächeln, und es klingt, als würde er jetzt ganz besonders viel Nähe suchen. „Sehen Sie das wirklich so?“
„Haben Sie welche oder haben Sie keine?“
„Also, ehrlich!“, lacht Ritchie auf und strahlt freundlich.
Der Berliner Psychosomatiker H.H. Studt bezeichnet Reaktionsbildung als „Ersetzung des gefürchteten Triebimpulses durch sein Gegenteil“.

Tatsächlich ist die Reaktionsbildung eine der Abwehrstrategien des Unbewussten gegen gefürchtete oder peinliche Triebimpulse: der unbewusste Widerstand ist so stark, dass der Triebimpuls restlos unterdrückt und durch sein Gegenteil ersetzt wird. So werden Menschen mit starken homophilen Neigungen zu flammenden Kämpfern gegen die vermeintliche Sünde der Gleichgeschlechtlichkeit; Personen mit sexuellem Triebüberschuss wenden sich ab von der „Unmoral“ und leben monogam oder gar zölibatär, wenngleich unter erheblichen Qualen; und Menschen mit sogenannter „aggressiver Hemmung“ reichen fromm die linke Wange, nachdem der Streich auf die rechte nur ihre christliche Sanftmut ausgelöst hat.

Eine besonders drastische Form der Reaktionsbildung ist die Idealisierung: das Gegenüber ist dermaßen angsteinflößend, dass jede aggressive Regung den eigenen Untergang bedeuten könnte. Der einzige Ausweg aus der ständigen Angst liegt in der „Identifikation mit dem Aggressor“, der vorsichtshalber vergöttert wird. In ihrem 1970 erschienenen Werk „Eine deutsche Art zu lieben“ haben Alexander und Margarete Mitscherlich diesen Mechanismus am Beispiel der Hitler-Verherrlichung durch die Deutschen der Nazizeit beschrieben: Ein Tyrann, der jede Freiheit nahm und ein mörderisches Willkürregime errichtete, hätte von den Massen eigentlich gehasst werden müssen. Stattdessen wurde er quasireligiös überhöht. – Auch die Stalinverehrung der unseligen Zeit ist nichts anderes, und wer sich an die bizarre Bejubelung arabischer Massenmörder wie Gaddafi oder Saddam Hussein erinnert, der wird deren Erklärung in der Reaktionsbildung finden. Aus meiner eigenen langjährigen Erfahrung im damaligen Regierungssitz Bonn könnte ich noch ergänzen: Auch die unkritische Verherrlichung eines langjährigen Kanzlers durch seine oft recht schrägen Satrapen, obwohl seine Brutalität und seine korrupten und kriminellen Züge unübersehbar waren, war eher angstinduziert als von echter Begeisterung getragen. Denn schon eine Spur seines Unwillens bedeutete das Ende aller Karriereambitionen.

Und Ritchie sitzt vor den Trümmern seines Lebenskonzepts: netter Kerl sein, mit allen gut Freund, und darauf vertrauen, dass es ausschließlich so zu ihm zurückkommt. Tut es aber nicht.
„Schmiedinger wird seine Gründe haben“, sagt er, „aber ich versteh die nicht, sonst könnt ich vielleicht was unternehmen.“
„Ihn anstrahlen?“ frage ich. In Ritchie arbeitet es. Man kann förmlich sehen, wie er die aufgestaute Aggression wieder niederringt, damit sein Selbstbild nicht wackelt, obwohl es das schon ganz kräftig tut. – Unübersehbar, dass die kompromisslose Freundlichkeit eine Strategie der Konfliktvermeidung ist. Denn Ritchies aggressive Hemmung verweigert ihm ein wichtiges Instrument der Lebensführung: Aggression findet nicht statt; Selbstbehauptung wird durch selbstverleugnende Freundlichkeit erkauft. De facto ist er wehrlos, und langsam dämmert ihm, dass da irgendwas nicht stimmt.

Man sollte nicht der Versuchung erliegen, ihn für einen Einzelfall zu halten. Ein Großteil meiner Coachingklienten hat dieses Problem: die eigene Aggression nicht mehr zu spüren, im Interesse der „Funktionsfähigkeit“. – Das aber heißt: sich selbst nicht mehr spüren. Die verdrängte Wut richtet sich dann nach innen, mit langfristig unübersehbaren Folgen. – Thema Psychosomatik: Rheumatoide Arthritis, Magengeschwür, Colitis Ulcerosa, Neurodermitis, Asthma Bronchiale, Bluthochdruck und noch so einiges andere wie zum Beispiel depressive Abstürze. – – Aber man hat ja Tabletten, wozu was  ändern?

Ritchie hat eigentlich Glück, denn die Härte der Ereignisse hat ihn an den Rand der Erkenntnis geführt, dass sein System nicht (mehr) funktioniert, und im Laufe einiger Sitzungen fragt er sich, ob sein Sunnyboy-Image nicht eine verdrängte Kehrseite hat. – Sie hat es. In geduldiger Exploration erinnert er sich an die alleinerziehende Mutter. An ihre Niedergeschlagenheit und Verzweiflung, nachdem der Vater sie einer anderen wegen verlassen hatte und ab da nicht mehr aufgetaucht war. An das kindliche Bemühen eines Sechs-Siebenjährigen, Mama mit ganz viel Liebe aufzuheitern und den Vater vergessen zu machen, indem er dessen Rolle übernahm. An die symbiotische Innigkeit, die sich zwischen der Mutter und dem kleinen Jungen aufgebaut hatte, der seine Aufgabe nunmehr darin sah: Mama trösten und glücklich machen. Er bekam viel von ihr zurück; möglicherweise unnatürlich viel.

Für Aggression war kein Platz mehr, denn er wollte Mama beschützen, und ein „böser Ritchie“ hätte sie verletzt. – Fazit: Ritchies frühe Erfahrung ließ ihn lernen, dass Aggressivität ein „Bäh!“-Thema war, und dass man einen Konflikt „löste“, indem man einfach noch lieber war als ohnehin.

Man könnte auch sagen: Es war höchste Zeit für die Ablösung von der Mutter.

Die Kehrseite seines Strahlemanns war ein Riesenberg an ungelebter Trauer, und so stürzte er im Verlauf unserer Gespräche erst einmal tief ab. Nicht zuletzt, weil er seine Sunnyboy-Attitüde letztlich als Vermeidungszwang erkannte. Irgendwann aber war ICH der Vollidiot, dem er nach allen Regeln der Kunst die Meinung sagte. Ich saß da und übernahm die Rolle des verhauenen treulosen Vaters gerne. Danach ging es Ritchie zwei Wochen lang sehr schlecht.

Ritchie fing sich. Nach einer erneuten Provokation Schmiedingers faltete er diesen vor versammelter Mannschaft zusammen. Es kam zu weiteren Kollisionen, und Ritchie erkannte, dass er in seinem Ehrgeiz zu viele reale Schwierigkeiten ausgeblendet hatte, und dass ihm die Lust fehlte, die nächsten Jahre seines Berufslebens nur noch mit gefletschten Zähnen zu verbringen. Er traf den schweren Entschluss, die Firma zu verlassen und fand eine neue Position, die er mit wesentlich mehr Distanz anging. Wir führten noch drei Gespräche, in denen es vorrangig darum ging, die ihm gemäße Mischung aus Nähe und Abstand zu finden und alte Fehler nicht zu wiederholen.

Schmiedinger übrigens wurde nicht sein Nachfolger.

Eine Idee zu “Sunnyboys Trauer.

  1. Barbara Preßler sagt:

    Das ist natürlich interessant, jetzt ist mir auch klar, warum Susi fortwährend lacht. Als Kind dachte ich immer ‚das hat sie von ihrer Mutter‘ – die lacht auch ständig – aber das ist es natürlich nicht.

    Ihnen noch einen schönen Sonntag, Herr Späth und viele Grüße

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